„Neckarkino“ entlang der Gleise

12.10.2016
Erstellt von Sandra Kathe

Bei „Fahrtenschreiber“ erzählten drei Autoren von ihren Erlebnissen entlang der Bahngleise durchs Neckartal. Entstanden ist dabei ein Bild einer Region, das die Zuhörer neugierig macht.


Gut gelaunt im Karlstorbahnhof: David Wagner, Julia Wolf und Anis Hamdoun (von links). © Andreas Neumann

Idealer als der „klub_k“ des Karlstorbahnhofs in Heidelberg könnte ein Ort zum Erzählen von Geschichten aus der S-Bahn durchs Neckartal kaum sein. Das Publikum genießt nach links den Blick auf den Neckar, in dessen nächtlichem Schwarz sich Lichter spiegeln; rechts sieht es die spärlich beleuchteten Gleise. Sehen die Zuschauer nach vorn – dorthin, wo auch die drei Autoren sitzen, – beobachten sie die roten S-Bahn-Züge, die in regelmäßigen Abständen an der Station „Heidelberg-Altstadt“ halten.
Die Autoren David Wagner, Anis Hamdoun und Julia Wolf hatten bei ihrem dreitägigen Recherche-Aufenthalt vor einigen Wochen Gelegenheit genug, sich mit den Bahnsteigen der Gegend vertraut zu machen. Die Texte, die sie gestern präsentierten, beschreiben, was sie auf ihren Reisen mit Bahn, Boot und Wanderschuhen erlebt haben. Dabei wählten alle drei einen vor allen Dingen ehrlichen Ansatz für „Fahrtenschreiber“; ein Projekt, das bis zur Lesung beim Matchbox-Team als Experiment galt und von den Künstlern vor allem als literarisches Spiel gesehen wurde. Ein Spiel, das David Wagner drei Tage lang die Natur genießen ließ und Anis Hamdoun dazu brachte, überall nach inszeniertem Drama und versteckten Kameras am Wegesrand zu suchen. Ein Spiel, das gerade Julia Wolfs erfrischend zynischem Text auch immer wieder Gedanken dazu entlockt, wie sich die „Spielfiguren“ auf dem „Spielbrett“ zwischen Fluss, Gleis, Wald und Einheimischen fühlen müssen.

© Andreas Neumann

Neugierig auf die Region macht vor allem der im Journalstil geschriebene Text von David Wagner, der die Protagonistenrolle vom Ich-Erzähler schon bald an die Region mit ihren vielen Orten, Wäldern und Flussufern abgibt: „Neckarkino“, wie er es nennt. Der mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnete Autor beschreibt Detail über Detail. Und zwar so schnell, dass sich der Zuhörer bei nur einer Sekunde Unaufmerksamkeit zwischen all den „Neckardingsdas“ zu verlieren droht. Die Menschen, die er unterwegs trifft – eine lärmende Schulklasse, eine strickende Frau –, bleiben im Hintergrund.
Anders ist das bei Anis Hamdoun, dem syrischen Theater- und Filmemacher, der 2013 nach Deutschland kam und von der Idee „Fahrtenschreiber“ zwar begeistert, aber doch etwas irritiert war. Er brauche, erzählt Hamdoun, Action, Konflikte, Diktatoren für seine Szenen, die aufregen, für Unbehaglichkeit bei den Zuschauern sorgen sollen. „Die Möglichkeit, das in dieser Idylle zu finden, hielt ich für minimal“, erklärt er: „Wer soll sich schon streiten, wenn die beiden Hauptschlagadern einer Gegend ein Fluss und eine S-Bahn sind?“ Fündig wurde der selbst ernannte „Drama-Pirat“ dennoch: an einem verlassenen Bahnhof, der ihn hinter jeder Ecke einen inszenierten Zombie-Aufmarsch vermuten ließ und schließlich auch im Gespräch mit Einheimischen, die ihm erklärten, wie ein Fluss eine Gegend lebendig machen kann.

© Andreas Neumann

Zum Abschluss las Julia Wolf, die den wohl kreativsten Ansatz gefunden hatte. Ihr Text, gespickt mit fiktiven Erlebnissen, vielleicht auch Erinnerungen an längst vergangene Zeiten, hinterfragt die Rolle des Schriftstellers in einer solchen Lage. Ist es wirklich so einfach, zack, zack einen Text zu produzieren, so ganz ohne Richtung? Ist es nicht! Als Einzige war die beim diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis mit dem 3sat-Preis ausgezeichnete Schriftstellerin mit einem prall gefüllten Terminkalender nach Neckargemünd gekommen, hatte Gespräche und Treffen mit Einheimischen minutiös eingeplant. Erwähnung fanden die Treffen letztendlich kaum zwischen all den Zufallsbegegnungen in der S-Bahn, die Wolf zum Nachdenken brachten. Diese Gedanken lieber mit ihrem Publikum zu teilen anstatt erste oberflächliche Eindrücke von Personen oder Berufen zu schildern, war für die Künstlerin eine bewusste Entscheidung. Und auch für die lässt die Kulisse des Neckartals glücklicherweise genügend Raum.
Was dem Publikum nach der Lesung bleibt, ist der Blick auf die S-Bahn-Gleise rechts, den Neckar links und die Lichter der abfahrenden Bahn Richtung Mosbach. Und die Frage, ob es sich lohnt, es den Autoren nach zu tun und den Weg ins beschauliche und überraschend dramatische Neckartal zu wagen. Aber nicht mehr in dieser Nacht.


Fahrtenschreiber
11.10.2016
klub_k, Karlstorbahnhof Heidelberg

in Kooperation mit dem Karlstorbahnhof Heidelberg und der S-Bahn RheinNeckar


Sandra Kathe

Journalistin zu werden, war für mich vor über zehn Jahren weniger Option als Herzblut-Entscheidung. Mein Werdegang begann Ende 2006 durch ein Praktikum bei der Rheinpfalz, der ich mein gesamtes Studium über treu blieb. Nach dem Abschluss und ersten Festanstellungen in anderen Bereichen entschied ich mich 2013 für die Freiberuflichkeit. Seitdem arbeitete ich vor allem für Frankfurter Medien: die Frankfurter Neue Presse, das hessische dpa-Landesbüro, das Frizz-Magazin. Im Sommer beendete ich mein erstes Buchprojekt für MairDumont: den Stadtführer „Frankfurt für Frankfurter“.

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