Entfernte Verwandte

06.05.2021

Wir haben den Autor Akın E. Şipal eingeladen, die digitalen Veranstaltungen von BUILDING CONVERSATION RHEIN-NECKAR zu begleiten. Im Nachgang zu jeder digitalen Conversation wird seine ganz persönliche Reflexion über die Teilnahme am Gespräch hier im Blog zu lesen sein.

In "Entfernte Verwandte" geht es um "Ferne Gedanken" vom 29. April 2021. 

Entfernte Verwandte

„Ja, hallo?“

Ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass es für diese Performance ausschließlich eines Telefons bedarf. Wie angenehm, unsichtbar zu sein, denke ich, als jemand abnimmt.

Einfach der Anleitung folgen, hatte ich gedacht und die Nummer in mein Handy getippt. Bevor ich auf die Anruftaste drückte, zog ich noch schnell den Stuhl unters Dachfenster.

Zehn Minuten später erzählt mir ein Mensch, den ich nicht kenne, von einem Ereignis, das ihn beeindruckt und bei dem dieser eine ihm unbekannte Person kennengelernt hat.

Wir folgen einem Skript; es gibt Sätze vor wie: „Ja, sie sagten mir, dass du anrufen würdest.“ oder: „Was hast du dabei körperlich gefühlt?“

Die Erinnerung, die nicht meine ist, steht in voller Blüte, hier in meinem Zimmer. Alle reellen visuellen Eindrücke werden diesem inneren Bild angetragen: der weite Himmel, die Abenddämmerung, der Staub auf dem Sideboard verbinden sich mit der gar nicht mehr so fremden Stimme. Ich werde zum Ausstatter der Erinnerungen meines Gegenübers. Kann man beim Telefon von einem Gegenüber sprechen?

Der Mensch am andern Ende der Leitung erinnert sich, geht fürsorglich mit der geteilten Erinnerung um, legt sie behutsam in meinem Ohr ab, versucht, sie mit den richtigen Worten zu versehen, überlegt: „Ähm, und…“, „… ja, so…“. Ich versuche die Erinnerung, die nicht mir gehört, richtig zu kostümieren, ich simuliere Lichteinfälle. Das Setting ist mediterran, gedämpft. Die vorherrschenden, die Atmosphäre bestimmenden Gefühle, sind Selbstverständlichkeit und (Un-)Wahrscheinlichkeit.

In dieser Erinnerung geht es um eine weitere Person, die ich nicht kenne, ich entwerfe sie. Dann frage ich doch nach: „Und wie sieht der Mensch aus, kannst du ihn noch beschreiben?“

Und dann verwerfe ich meinen ersten Entwurf, nein, einfacher: er wird vom nächsten überblendet. Diese Leichtigkeit der Ereignisse, die, vom anderen Ende her geschildert, an meine Vorstellungen anschließen; ich verstehe oder ich ertappe mich nicht dabei, dass ich denke, dass ich etwas nicht verstehe… Zuhören ohne dazugehöriges, reelles Bild, ist filmisch. Wie ein Film, bei dem niemand die Schärfe nachzieht. Dynamisch, aber auf angenehme Art unscharf. Zwischendurch frage ich: „Hast du das Gefühl, dass du dem Ereignis und der Person mit deiner Beschreibung gerecht geworden bist?“

Der Mensch am anderen Ende sagt etwas wie: „Nicht so wirklich.“

Dabei glaube ich, einen Kamin am Ohr zu haben. Wie nah man sich kommen kann, wenn man sich nicht kennt. Wie vertraut die Stimme ist, wenn sie Erinnerungen Gestalt verleiht.

Ich bin an der Reihe. Der Mensch am anderen Ende lockt mich unmerklich beiläufig, allein durch seine Unvoreingenommenheit und Entspanntheit, aus der Reserve. Nicht dass ich mir vorgenommen hätte, mich zurückzuhalten, aber am Ende habe ich das Gefühl, drei Stunden mit Ölfarben gemalt zu haben. In der Realität habe ich vielleicht fünfzehn Minuten am Stück gesprochen. In Telefonzeit ist das natürlich mehr: ich weiß nicht mit welchem Faktor man Telefonzeit multipliziert, um die reelle Gesprächsdauer zu ermitteln, aber die Zeit am Telefon gehorcht anderen Gesetzen, sie ist schwerelos, verdichtet, extrem nah und körperlich unverbindlich, obwohl sie einen angeht, schwerer auf einem lastet: widersprüchlich. Telefonieren ist ein körperlicher Vorgang, man richtet sich zum Lautsprecher aus, man hält vielleicht einen Hörer, ein Smartphone, man faltet vielleicht mal Wäsche nebenbei, was sich aber sofort wie Verrat anfühlt und man darf sich nicht zu weit entfernen… man sagt ja nicht umsonst: „Ich häng in der Leitung“ oder „Ich hab hier jemanden an der Strippe“.

Wir tauschen uns darüber aus, wie ähnlich unsere Erfahrungen sind und wie wenig sie sich wiederholen ließen, überhaupt und wie wenig jetzt, zu dieser Zeit, in der Lage, in der wir stecken.

Wir verabschieden uns, wir halten uns ans Skript. Warum eigentlich? Nicht, dass das schlecht wäre, aber warum telefonieren wir nicht weiter, oder morgen nochmal. Aber man will sich jetzt auch nicht mit Verantwortung und Eigeninitiative belasten. Die Leichtigkeit einer flüchtigen Begegnung genießen, denke ich.

„Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag.“

Vom anderen Ende her dasselbe: „Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag.“

Ich frage noch, ob das Absicht ist, dass uns aufgetragen wird „Nachmittag“ zu sagen, obwohl es Abend ist. Wir lachen. Wir legen auf.

Stille. Ruhe. Mit Bildern angefüllt. Wenn es hier darum geht, in der Gegenwart anzukommen, ist der therapeutische Erfolg riesig.

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