Entdeckungsreise ins Alltägliche

28.09.2016
Erstellt von Manon Lorenz

Mit „Storylines“ will Regisseurin Lea Aderjan die Zugfahrt zwischen Heidelberg und Mosbach zu einem Erlebnis machen. Besondere Lautsprecheransagen, Dauerinstallationen entlang der Strecke und Touren mit lokalen Reiseführern laden dazu ein, das Neckartal (neu) kennenzulernen.


„Bitte einsteigen, die Türen schließen. Lassen Sie Ihr Gepäck nicht unbeaufsichtigt. Nächster Halt: Heidelberg, Altstadt. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Bitte achten Sie beim Aussteigen auf die Höhe der Bahnsteigkante.“
Zugfahren gehört für viele Berufspendler, Studenten und Schüler zur Notwendigkeit und Sätze wie diese zur täglichen Gewohnheit. Um besser lesen, arbeiten, Musik hören oder schlafen zu können, blenden Fahrgäste die sich monoton wiederholenden Ansagen aus – so gut es eben geht.

Genau das möchte Lea Aderjan ändern. „Viele Leute nehmen das Gewohnte gar nicht mehr wahr“, bedauert die Regisseurin aus Mannheim. Sie möchte wieder für die Ästhetik des Alltäglichen sensibilisieren. „Es geht darum, den Alltag neu zu beleuchten und ihn dadurch spannender zu machen.“
Mit „Storylines“ will sie die Zugfahrt durch das Neckartal deshalb auf drei Arten zu einem besonderen Erlebnis machen: einmal durch Lautsprecheransagen in der S-Bahn zwischen Heidelberg und Mosbach, die von Anwohnern eingesprochen wurden. Anhand von Dauerinstallationen in den Kommunen entlang der Bahnstrecke. Und schließlich mit von ortskundigen Bewohnern geführten Touren.

„Die Audioinstallation soll vor allem Aufmerksamkeit erzeugen, eine Irritation sein“, erklärt Aderjan. „Jeder kennt diese Zugansagen, aber es ist einem nicht bewusst. Erst dadurch, dass Bürger neue Ansagen aufgenommen haben, werden diese wieder wahrgenommen.“ Was über Lautsprecher zu hören ist, soll aber auch neugierig machen: einen dazu motivieren, auf halber Strecke auszusteigen, um die Installationen in den Kommunen selbständig aufzusuchen und zu erkunden. Die Bahnfahrt wird so zur künstlerischen Performance und fordert die Reisenden zum Zuhören, Staunen und Mitmachen auf.

Die Neckartalstrecke dient dabei nicht nur als Bindeglied zwischen den einzelnen Gemeinden und ihren Bewohnern. Sie stellt zugleich einen Zeitstrahl dar, an dem sich die Geschichte des Tals entlangschlängelt und darauf wartet, entdeckt zu werden. Einheimische – alte und junge, zugezogene und alteingesessene – bieten Fremden ihre Ortskenntnisse für die Entdeckungsreise an. Sie führen zu verborgenen Plätzen, demonstrieren außergewöhnliche Tätigkeiten und wandeln auf den Spuren vergangener Zeiten.
So wie zum Beispiel Johanetta, die gerade Mutter geworden ist und einen auf einen Rundgang durch ihre eigene Kindheit in Neckarsteinach mitnimmt. Vier Jahre lang musste sie dort jeden Tag einen ganz besonderen Schulweg zurücklegen und verrät: „Mein Weg war immer der längste.“

Oder wie Thomas, gebürtiger Hamburger, der sich erst im Ruhestand die Zeit genommen hat, sich zu fragen: „Wer bin ich eigentlich? Was mach‘ ich hier?“ Als leidenschaftlicher Sammler alter Dinge gewährt er im alten Bahnhof Schlierbach-Ziegelhausen Einblicke in seine Schatztruhen und wagt anhand der Spuren, die er durch sie und an ihnen hinterlassen hat, einen sehr persönlichen Rückblick.
Die Verknüpfung des Ortes mit der Installation ist dabei nicht willkürlich. „Diana Ambergs, die Besitzerin, hat dieses alte Gebäude selbständig renoviert und restauriert und dann einen Blumenladen daraus gemacht, die ,Flowerstation‘“, erklärt Aderjan. „Das war die Verbindung zu Thomas, der Architekt war und dessen Passion es ist, alte Häuser so getreu wie möglich wieder aufzubauen.“
Für Thomas ist „Storylines“ Zeichen eines Aufbruchs in der Region, den ländlichen Raum wieder stärker ins Bewusstsein zu rücken. „Man ist da auf dem richtigen Weg“, ist er sich sicher. „Da hat es sich gefügt, dass ich mich gerade selbst in einem Umbruch befinde; da hat das Projekt sehr gut gepasst. Für ihn sei es sehr aufschlussreich gewesen, als er plötzlich gemerkt habe, dass sein Lebenslauf doch sicher auch für viele andere in seinem Alter spreche. „Denn darum geht es bei dem Projekt: um die Lebensläufe von Personen, die hier wohnen.“

Für Aderjan liegt der Reiz darin, dem vermeintlich Unscheinbaren dieser Lebensläufe Aufmerksamkeit zu verschaffen. „Viele Geschichten sind an sich sehr alltäglich. Erst wenn man sie inszeniert und das Einzigartige dadurch hervorhebt, werden sie lebendig und interessant.“
So entsteht anhand der Biografien seiner Bewohner ein Porträt des Neckartals selbst. Um dieses Bild möglichst facettenreich zu gestalten, hatte das Kulturbüro der Metropolregion Rhein-Neckar die dort lebenden Menschen aufgerufen, ihre mit dem Neckartal verbundenen Erfahrungen und Erlebnisse zur Verfügung zu stellen. „Die Leute sind mit ganz unterschiedlichen Ideen gekommen, und ich habe dann die Aspekte ausgewählt, die ich interessant fand“, so Aderjan. „In Thomas‘ Fall war er es zum Beispiel selbst und seine Wertschätzung von alten Dingen.“

„Storylines“ – das sind die Geschichten aus dem Neckartal, verbunden durch die Schienen der S-Bahn. „Storylines“ – das sind auch die roten Markierungen, die dem Neugierigen den Weg zu den Installationen am Rande der Bahnstrecke weisen. „Follow the line“ ertönt es deshalb aus den Lautsprechern, kurz bevor sich die Zugtüren öffnen. Es ist die Aufforderung, sich einmal auf ganzer Linie überraschen zu lassen. (Fotos: Manon Lorenz)


Bis 15.10.2016: Storylines Dauerinstallationen - alle Informationen finden Sie hier.
30.09. - 11.10.2016: Storylines Touren - die Termine können Sie hier nachlesen.
Storylines findet in Kooperation mit der S-Bahn RheinNeckar statt.


Manon Lorenz

Ich, 25, lebe in Heidelberg und studiere dort Geschichte im Master. Erste journalistische Gehversuche habe ich bei der Studentenzeitung ruprecht gemacht. Studienbegleitende Abstecher zum Kulturfernsehen, in die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie in die international ausgerichtete historische Forschung haben mir das breite Spektrum öffentlicher Kommunikation aufgezeigt. Was mir Interessantes über Kultur & Co. ins Auge sticht oder in die Finger kommt, teile ich unter @ManonLorenz auf Twitter.

 

 

 

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