Ein Hauch von Freiheit

04.06.2021

Wir haben den Autor Akın E. Şipal eingeladen, die digitalen Veranstaltungen von BUILDING CONVERSATION RHEIN-NECKAR zu begleiten. Im Nachgang zu jeder digitalen Conversation wird seine ganz persönliche Reflexion über die Teilnahme am Gespräch hier im Blog zu lesen sein.

In "Ein Hauch von Freiheit" geht es um das Unmögliche Gespräch über Freiheit vom 27. Mai 2021. 

Ein Hauch von Freiheit

Dies ist nicht das erste unmögliche Gespräch, an dem ich teilnehme. Es ist auch nicht das letzte. Auch nicht das letzte über das ich schreiben werde, sondern das vorletzte. Was ich sagen will: ich kenne das Prinzip. Ich bin nicht mehr überrascht, mehr oder weniger fremden Menschen in Form von Zoom-Kacheln zu begegnen, voreinander zu schreiben, einander vorzulesen und ins Gespräch zu kommen — Gespräche, die eine eigentümliche, positive Intensität entwickeln können, eine digitale Nähe: echt aber flüchtig … Nullen und Einsen als flüchtige Verbindungen? Schwer zu beschreiben: der Reiz, mit Menschen spezifisch über Themen zu sprechen, ohne dass sie einen kennen … ich schöpfe aus meinen Erfahrungen, ohne auf sie festgelegt zu sein. Ein bisschen jemand anders sein, ohne nicht ich zu sein, oder so. Sehr angenehm. Klingt vielleicht vage, aber für die Anderen ist man auch nicht mehr als eine verrauschte, zweidimensionale Erscheinung. "Ich könnte wirklich alles behaupten", denke ich. Aber heute … Was ist heute anders? Alles eine Spur unvermittelter. Echter? Das Wort "Reality" passt besser. Etwas weniger echt als das deutsche Wort Realität, aber doch ganz schön unvermittelt.

Freiheit.

Während ich ein Ereignis beschreibe, in dem ich mich auf markante Weise frei gefühlt habe, denke ich, dass Freiheit ein dermaßen schillernder Begriff ist, dass man gar nicht von einem Begriff sprechen kann. Ein Begriff als Schweizer Käse oder ein Begriff als Tor, das frei herumsteht? Ich denke, dass schon alle vorangegangenen unmöglichen Gespräche von Freiheit handelten, obwohl sie im Zeichen anderer Themen standen und dass ein unmögliches Gespräch über Freiheit damit ein doppelt unmögliches Gespräch sein muss und dadurch wiederum ein besonders mögliches: unvermittelter eben.

Theoretische Reflexionen, Versuche einer Aufarbeitung des Begriffs, überblendet mit Atmosphären von Freiheit, suchenden Schilderungen von Geräuschen in warmer Luft, Detailaufnahmen an Weggabelungen … Freiheit reagiert auf magische Weise mit der Zeit. Wir sprechen von Zoom-Kachel zu Zoom-Kachel von Freiheit und fädeln unsere Geschichten auf einer Zeitkette auf. Freiheit und Zeit als Widerspruch? Oder Zeit als Sortierprinzip das Freiheit möglich macht, weil man sich immer zu etwas verhalten muss? Ich bemerke, dass ich allen Teilnehmer*innen zutraue, dass sie Expert*innen in Sachen Freiheit sind und ich habe Recht. Ich weiß, dass alles in einer Form gerinnt.  Gewissheit. Weil es sich um Naturgesetzte handelt? Oder weil dies ein ganz besonderer Abend ist? "Ich muss nichts tun", denke ich, was mich entspannt. Ist das etwa mein persönlicher Freiheitsbegriff ist? Muss ich mich einfach zu meiner Faulheit bekennen? Ein Missverständnis? Wenn ich wirklich frei wäre, würde ich das akzeptieren können. Dann ein Weckruf aus meiner Gedankenschleife. Der Nachhall eines Beitrags, der mich zeitverzögert erreicht: "Freiheit als Loslassen". Oder war es "Freiheit als Auflösung"? Jedes Dokument, jedes Archiv bedeutet irgendwie Unfreiheit, jede Identität, jeder materielle Wert, Gold zum Beispiel, bedeuten Unfreiheit … In einer bestimmten Unfreiheit könnte man baden und es fühlte sich gut an, denke ich. In der vermeintlichen Gewissheit sich zu kennen, liegt gigantische Unfreiheit, aber wie heilsam sie sein kann, oder? Früher oder später holt jeder Begriff seinen Gegenbegriff ein und schleppt ihn überall hin mit … Unermesslicher Reichtum: glückliche Unfreiheit? Eine Begabung: eine ermächtigende Geißel?

Ein neuer Gedanke. Die Freiheit zu haben, Gedanken nicht an Begriffe anzuschließen, nirgendwo einzuspeisen, sondern verwaisen zu lassen. Unverantwortlich denken, ohne sich dabei einen Millimeter zu bewegen. "Das klingt gut", denke ich, aber es entspricht nicht der Situation gerade. Aber da kommen sie auch schon wieder, der Begriff und seine widersprüchliche Partnerin: ich denke, dass ich vielleicht doch eher ein Jünger der Unfreiheit bin; ich bin gerne in Archiven. Dann fällt mir ein Bild für das ein, was gerade passiert: Lavalampe. Der Freiheitsbegriff plus Energie auf der Basis von Zeit gleich permanente Transformation. Ich klappe den Bildschirm zu. Puh. Freiheit? Ich spüre sie.

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