Der Bart ist noch nicht ab

10.09.2016
Erstellt von Jonathan Horstmann

Trotz vieler politischer Bezüge pflegt der Stummfilm „Nibelungen Cycle“, der gestern am Nationaltheater Mannheim Premiere hatte, insgesamt einen lockeren Umgang mit den Figuren und Motiven der Nibelungensage. Die Adaption von Kelly Copper und Pavol Liška zeigt, dass es möglich ist, sich modern und unkonventionell mit Mythen zu befassen.


Um einen Mythos zu inszenieren, braucht man keinen Ton, sondern vor allem die richtigen Bilder. So könnten es sich die amerikanischen Künstler Kelly Copper und Pavol Liška vom Nature Theater of Oklahoma gedacht haben, als sie nach der passenden Kunstform suchten, um mit einer Gruppe Laiendarsteller die Nibelungensage neu in Szene zu setzen – und sich für den Stummfilm entschieden.

In ihrem an Originalschauplätzen im Odenwald gedrehten „Nibelungen Cycle“ treten die berühmten Figuren nun mit ganz großer Geste auf der Leinwand auf: Verzerrt sind die von Liebeskummer gezeichneten Gesichter, diabolisch die Blicke der Verschlagenen und Rachsüchtigen. Die Regisseure spielen mit diesen Ausdrucksmitteln und überzeichnen sie gleichzeitig so stark, dass ihr zweiteiliges Epos zu der Originalmusik aus Fritz Langs Nibelungen-Film von 1924 sowohl Spannung als auch Unterhaltung bietet. Der ambitionierten zeitgenössischen Adaption des Stoffes steht der Humor dabei nicht im Wege.

Gemäß der Widmung „Dem deutschen Volke zu eigen“, die Copper und Liška ihrem Film wie einst Fritz Lang voranstellen, interpretieren sie den Nationalmythos so, dass er einen Teil unserer gesellschaftlichen Gegenwart abbildet. Zum tagesaktuellsten Motiv gerät ihnen die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Fremden. Sie lassen Siegfried als dunkelhäutigen Muslim auftreten, der sich am Burgundenhof von Worms unter lauter Weißen verdingt, um sich die Hand von Burgdame Kriemhild zu verdienen. Die ist von seiner Andersartigkeit gleich ganz überzeugt und trommelt ihr Volk auf dem Marktplatz zusammen, damit es Siegfried bejubelt. Es scheint, als würden die Menschen „Wir schaffen das!“ rufen – jedenfalls würde das zu ihrem Integrationswillen passen. Hagen von Tronje vertritt die skeptischere Koalition. Argwöhnisch beobachtet er den Ausländer, der Odenwälder Kochkäseschnitzel wegen des enthaltenen Schweinefleisches verschmäht, und sinnt darauf, ihn des Burgundenlandes so schnell wie möglich zu verweisen. So entspinnt sich eine Intrige, die den Kollaps eines Volkes zur Folge hat.

Trotz der Auffälligkeit solcher politischer Bezüge pflegt der Film insgesamt einen lockeren, spaßhaften Umgang mit seinen Figuren und Motiven. Er nimmt sie zwar ernst, unterfüttert jede Szene aber mit so vielen skurrilen Einfällen, dass er in Zügen einer Slapstick-Show ähnelt. Zum Beispiel trägt Siegfried einen aufgeklebten Schnurrbart im Gesicht, der ihm ständig herunterfällt und den der Mime Fernando Gomez dann mit schelmischem Blick in die Kamera richtet, als wollte er gemeinsam mit den Zuschauern über die Maskerade lachen.

Auch Darstellerin Petra Grafenhorst probiert in ihrer Rolle als König Gunther die verrücktesten Gesichter aus. Wie irre klimpert sie mit den Augen, um beim Heiratsantrag auf Island Königin Brünhild zu bezirzen; bei jeder Begegnung mit dem Hunnenkönig Attila gibt sie ihm einen scherzhaften Klaps auf den Hintern. Der Umstand, dass das gefilmte Spiel der Darsteller fast permanent in einer zu hohen Geschwindigkeit abgespielt wird, macht jede Bewegung und jede Grimasse noch wirkungsvoller und lehnt sich an die Bilddynamik des frühen Kinos an, in dem Aufnahme- und Abspielzeiten der gefilmten Sequenzen noch nicht übereingebracht werden konnten.

Sämtliche Schauplätze des Films – vom Felsenmeer bei Laudertal bis hin zu den Zinnen der Burg Lindenfels – werden so gezeigt, wie sie heute aussehen, und nicht künstlich historisiert. Dadurch, dass in der Burgundenburg also Feuerlöscher an den Wänden hängen und sämtliche Statisten ihre ganz alltägliche Kleidung tragen, hat der Film auch eine ästhetische Verankerung in der Gegenwart. Er zeigt, dass es möglich ist, sich modern und unkonventionell mit Mythologie zu befassen. Vielleicht spielt der Einfall mit Siegfrieds Schnurrbart ja auch auf das deutsche Sprichwort an: Der Bart ist noch nicht ab. (Fotos: Filmbild, Marilyn Nova White (2))


Nibelungen Cycle

Premiere am 9. September 2016, Schauspielhaus, Nationaltheater Mannheim
Dauer: ca. 2,5 Stunden + Pause
Texttafeln überwiegend in englischer Sprache

Darstellerinnen und Darsteller:

Siegfried                         Fernando Gomez, geboren auf den Kapverden, lebt in Hemsbach
Kriemhild                        Monika Loser aus Hemsbach
Gunther                           Petra Grafenhorst aus Heppenheim und Annette Moll aus Lorsch
Brünhild                          Marilyn Nova White aus Mannheim
Hagen                             August Richard aus Ludwigsburg bzw. Bensheim
Volker                              Arne Löber aus Köln
Attila                               Jens Schambach aus Bensheim
Priester/Nackter Mann    Daniel Kennig aus Mörlenbach
Alberich                          Reinhard Küßner aus Hemsbach
Rüdiger/ Vater von
Schnurrbart-Junge           Astrid Lichti aus Lorsch
Schnurrbart-Junge           Pia Marienfeld aus Lorsch
Musikalische Begleitung  Hermann Art Kollektiv

Filmmusik:

Gottfried Huppertz: DIE NIBELUNGEN (Fritz Lang, D 1924), hr-Sinfonieorchester, Frank Strobel (Dirigent), Bearbeitung: Marco Jovic/Frank Strobel (2010)


Jonathan Horstmann

Ich schreibe, weil es für mich die präziseste Form ist, mich auszudrücken. Während meines Studiums von Religionsphilosophie, Soziologie und Filmwissenschaft in Frankfurt am Main machte ich meine ersten journalistischen Erfahrungen bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; seither bewege ich mich als freier Autor und Filmkritiker quer durch die Bundesrepublik. Die Gedanken, die mir im Kino kommen, notiere ich auf meinem Blog Streifenpolizist.

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